Meine Damen und Herren,

liebe E.R.N.A.,

lieber Paul – als Initiatoren und, was Paul betrifft, Beteiligter der Ausstellung,

und natürlich: liebe Christin Müller – als eingeladene Künstlerin,


nachdem ich in Vorbereitung meiner Rede die gezeigten Plastiken zwar weitgehend im Atelier der Künstlerin sehen konnte und auch die Bilder hier in Altenau schon den Räumen zugeordnet und teilweise gehängt sah, war es doch ein Aha-Erlebnis, als ich vor einigen Tagen Aufnahmen der fertig aufgebauten Ausstellung „Figur & Kreatur“ im Internet betrachten, ihrer Logik folgen konnte. Und heute nun, da ich alles im Original sehen kann, möchte ich endgültig von einem glücklichen Zusammentreffen der Arbeiten dieser beiden Künstler sprechen. In kraftvoller Weise widmen sie sich dem Menschen, fragen nach seiner Stellung in der Welt. Beider Werke, immer orientiert an der Figur, vermeiden gleichwohl  weitgehend Erzählerisches. Vielmehr sind sie mehr oder weniger zeichenhafter Ausdruck von existenziellen Zuständen, Befindlichkeiten, Haltungen, deren Dimension sowohl ganz elementarer, ja kreatürlicher Natur sein kann, aber auch komplexer, auf den Menschen als gesellschaftliches Wesen gerichtet.



Meine Damen und Herren,


Christin Müllers Metier ist die Keramische  Plastik - ein im Kunstgeschehen nicht so häufiges, wenn auch sehr altes gestalterisches Medium. So, wie die Künstlerin sich diesem widmet, scheint sie einen Weg gefunden zu haben, den Menschen in seiner durch die Zeiten zu beobachtenden Stärke, aber auch seiner Gebrochenheit, zu hinterfragen. Ihr geht es nicht um eine Harmonie versprechende Oberfläche. Sie möchte tiefer loten. In der Folge zeigen sich ihre Plastiken oft als Körper mit verletzten Oberflächen. Man findet offene Partien, die den Betrachter „unter die Haut“ schauen lassen, den Blick auf ein Konstrukt freigeben, welches das Ganze hält. 

Häufig – in der Ausstellung finden sich derer fünf, die als solche ausgewiesen sind - schafft sie Torsi, deren Oberfläche ebenfalls keineswegs völlig unversehrt ist. Der Hintergrund von Versehrungen solcher Art ist die Verwendung von Platten aus keramischer Masse, die teils auch unterschiedliche Härte aufweisen in einem Arbeitsgang (Die Künstlerin verglich dies mit dem Kachelofenbau). Trocknen und Brennen lassen dann „Nähte“ sichtbar werden. Auch Risse entstehen – und zwar gewollt, zumindest solange die Stabilität einer Figur, eines Torso, dadurch nicht gefährdet ist. 

Man sollte in Bezug auf den Torso vielleicht daran erinnern, dass diese skulpturale Form erst im späten 19. Jahrhundert, etwa bei Rodin, zum eigenständigen Motiv wurde und dann bei Vertretern der Klassischen Moderne wie Lehmbruck und Maillol, sowie weiter bis in die Gegenwart -  sofern noch an der Figur gearbeitet wird - Gegenstand im bildhauerischen Schaffen blieb. Es handelt sich um eine Form, die ob ihrer rudimentären Erscheinung in ihren Interpretationsmöglichkeiten sehr heutig ist. Sehr heutig wirken auch die von Christin Müller aus keramischer Masse geformten, um ein Gerüst „gebauten“ Figuren,  deren Oberfläche sich überwiegend ungeglättet, zerrissen und schroff darstellt. 

Manche der Figuren - rudimentär oder nicht – sind wie die Torsi partiell farbig gehalten. Dazu verwendet die Künstlerin teils Glasuren, die auch an einem Objekt unterschiedliche Färbungen aufweisen können. Das hängt nicht zuletzt mit den vor dem Brennen aufgebrachten farbigen Engoben zusammen. Oft sind auch nur manche Partien mit Glasur behandelt, die anderen zeigen ihre recht schroffe keramische Oberfläche. Bei anderen Objekten, etwa einigen Studien, wurde die keramische Masse auch mit Pigmenten/Engoben durchfärbt. Zugleich fällt auf, dass das verwendete keramische Ausgangsmaterial wohl „von Natur aus“ unterschiedliche Tönungen aufweist.  


Anregungen für Christin Müllers Plastiken kommen oft von ganz weit her aus der Menschheitsgeschichte: aus der griechischen Antike oder auch biblischen Überlieferungen. Mitunter steht dieser Rückbezug in Zusammenhang mit Aufträgen. Gleichwohl sind diese Darstellungen im Ergebnis auf eine Ebene geführt, die ebenso den heutigen Menschen, seine Haltungen und Wagnisse wie sein Versagen oder auch seine Verletzungen meinen kann. 


Ich denke hier an die ausgestellte Plastik „Zwiegestalt“, die zudem mehrere „Geschwister“ in Form von Studien hat. Diese Arbeit lässt meiner Ansicht nach in verschiedene Richtungen denken, schließt mehrere Dimensionen ein. Die eine ist möglicherweise die Doppelnatur des Menschen, dem Güte und Liebe ebenso eigen sind wie Gewalt und Verrat. Beides lässt sich aller Tage wahrnehmen – im Kleinen und auf der großen Weltbühne. Aber da ist noch eine andere Dimension: „Zwiegestalt“ heißt das nicht auch, dass der Mensch immer auf der Suche ist – nach dem Anderen in sich und auch dem Anderen neben sich? Nach  antiken Überlieferungen heißt es, der Mensch sei ursprünglich ein Ganzes gewesen, das Männliches und Weibliches in sich vereinte. Da die Götter darin eine Gefahr sahen, trennten sie das Eine vom Anderen, so dass das Eine das Andere fortan erst suchen musste, um auf Zeit wieder eins zu sein. Damit nähert man sich auch Fragestellungen, die für heutige Menschen gleichermaßen existenziell sind: natürlich die ewige Suche nach dem Anderen, aber ebenso für manche die Suche nach der eigenen Identität.


Auch Plastiken wie „Mühle“ oder „Sumpfgängerin“ scheinen mir Grundsätzliches im Sinn zu haben. Es könnte eine Schwere, auch Kompliziertheit des Daseins gemeint sein, die ja viele Menschen erleben, manche auch erleiden. Es kann aber auch - weniger dramatisch – darum gehen, dass man durchaus Kraft braucht, um ein gutes, sinnvolles Leben führen zu können. Und manchmal hat man eben das Gefühl wie in einer Mühle – vielleicht der des Alltags – festzustecken oder eben wie in einem Sumpf, wo es schwer ist, die versinkenden Beine herauszuziehen. Und hat man etwas bewältigt, scheint es, als könne man schweben – also auch über den Sumpf.  


Aber nicht nur Kraft ist gefragt, sondern ebenso Lebensfreude. Um dem mit ihren künstlerischen Mitteln Ausdruck zu geben, hat Christin Müller möglicherweise die den Tanz thematisierenden Plastiken geschaffen. Auch dabei impliziert sie verschiedene Zeiten, etwa mit den Figuren „Menuett“ und „Charleston“. Zugleich ist die Darstellung der unterschiedlichen Tänzerinnen zudem sicher für die Künstlerin plastisch reizvoll wegen der verschiedenen Bewegungsmuster, die den Figuren differenzierten Ausdruck verleihen, spielerische Akzente setzen, wie sie vielleicht auch in einem Titel wie „schräggeträumt“ zum Ausdruck kommen.  



Meine Damen und Herren,


die Grundlagen für ihren Weg hat sich die 1974 in Dohna (bei Pirna) geborene Künstlerin an der traditionsreichen „Burg“, der Burg Giebichenstein, in Halle erarbeitet, wo sie – zuvor hatte sie eine handwerkliche Ausbildung zur Keramikerin absolviert – von 2002 bis 2009 studierte. Leiter der Bildhauerklasse war dazumal Bernd Göbel. Unmittelbar für ihr Studium der Keramischen Plastik relevant waren Antje Scharfe und Karl Fulle, sowie auch Martin Neubert – alle drei international renommierte Vertreter des Fachs. Diese Lehrer wiederum – besonders die beiden Erstgenannten – knüpften an eine Tradition an, die mit der 2002 verstorbenen Gertraud Möhwald verbunden ist und deren Name – nicht zuletzt wegen ihrer, schon zu DDR-Zeiten begonnenen wegweisenden experimentellen Arbeit auf dem Gebiet der Keramischen Plastik – bis heute national und international ausstrahlt, gewissermaßen Legendenstatus hat. Christin Müller ist sozusagen eine Art „Enkelin“ dieser Künstlerin, die sie gleichwohl nie kennengelernt hat, die aber heute noch auch im Bewusstsein der Jüngeren ist wegen der besonderen Qualität ihres Schaffens. 



Meine Damen und Herren,


Der gebürtige Dessauer Paul Böckelmann  hat mehr als zwei Jahrzehnte bevor Christin Müller in Halle ihr Studium begann, in Dresden an der Hochschule für Bildende Künste von 1977 bis 1982 Malerei und Grafik studiert, wobei die Jahre beim Zeichner und Grafiker Gerhard Kettner wohl am eindrücklichsten waren. Wenn diese Zeit in der DDR gesellschaftlich auch zunehmend von um sich greifender Stagnation geprägt war, so war die „Szene“, gerade auch an den Hochschulen, doch lebendig - was heißt, dass auch nach Mitteln gesucht wurde, bewegende Fragen wirkungsvoll nach außen zu tragen. Kein Wunder, dass in diesem Zusammenhang ein expressiver Duktus für eine Reihe gerade der jungen Maler und Grafiker – andere entdeckten Performances oder Installationen für sich - seinen Reiz hatte (ähnliches hatte wenig früher in der Bundesrepublik stattgefunden). Was die Dresdner „Jungen Wilden“ jener Jahre betrifft, fallen mir unter anderem Namen wie Freudenberg, Hampel, Hengst, Kerbach, Küchler, Leiberg, Trendafilov, Schlegel, Schleime, Wenzel ein.   


In diesem zeitlichen Umfeld, im Jahr 1984 – dies übrigens ein Jahr, als eine Reihe Maler und Grafiker aus dieser Generation in den Westen ging, etwa nach dem Leipziger Herbstsalon – entstand Paul Böckelmanns Bild „Figur und Kreatur“, das den Auftakt zum Rundgang bildet. Beim Betrachten dieses überaus expressiven Bildes kam mir in den Sinn, dass man es auch „Angriff der Bestien“ oder „Triumphgeheul“ nennen könnte. Mit letzterem jagen die Tiere/Kreaturen hin und her. Und mittendrin befindet sich ein Mensch, der wohl durchaus davon vom Schrecken ergriffen ist, aber auch vor dem, was kommen könnte. Das Jahr 1989 war noch unabsehbar! Man kann diese Konstellation weiter vor dem Zeithintergrund interpretieren, auch in Bezug auf die Situation mancher Künstler, muss es aber nicht. Das Bild lässt es offen. Und so kann man es gut ins Heute holen, wo der Mensch sich ebenso in einer mehr oder weniger nicht adäquaten, teils auch feindlichen Umwelt einrichten muss.


Der Mensch begegnet uns hier in den Bildern Böckelmanns vorrangig als (oft nicht voll ausgeführte) männliche Gestalt – wohl durchaus auch, weil sich der Künstler einschließt in die Frage nach dem Platz des Menschen in der Welt (gemeint ist durchaus der Mensch als Individuum, aber auch die Gesellschaft). So wird die Bildfigur zu einer Art Zeichen. Ausgeführt sind seine Varianten in expressiver, mitunter fast grober, fleckhafter, aber auch einen zeichnerischen Gestus zeigenden Malerei mit unterschiedlichen Mitteln, etwa Öl- und Acrylfarbe, aber auch Sand oder Farbstiften. Die Gestalten sind konsequent im Bildraum gefasst, deuten Zustände und Haltungen an - nicht zuletzt mit ausdrucksvollen Hand- und Kopfpositionierungen. Mir scheint, dass ihnen häufig ein fragender Impetus innewohnt, etwa nach dem Motto „Wer bin ich?“, „Was soll werden?“, „Was ist zu tun?“. Ebenso scheinen sie  zu sagen: „Kann ich was dafür?“. „Ich bin doch nicht schuld“, „…. nicht  verantwortlich“ oder „Ich hatte/habe keinen Einfluss auf das Geschehen“ und natürlich „ Ich halte mich da raus“.

In auffälligem Widerspruch dazu steht die kraftvolle Anlage der Gestalten, die ja nicht gerade wehrlos wirken, mitunter fast den Bildraum zu sprengen scheinen und die durchaus wohl verschiedentlich hehre „Losungen“ verkünden. Gleichwohl scheint auch Einengung und Druck auf ihnen zu lasten, weshalb sich schon mal die Schultern krümmen. Da sind bildlich wohl auch die Grenzen der Freiheit des Handelns sichtbar. Innerhalb derer kann man wie die „Herkulesse“ und „Herkulinen“ auch mal prächtig auftrumpfen nach dem Motto „was kostet die Welt?“ – vielleicht auf einer Kreuzfahrt, solange man nicht im Hafen ankommt! Man kann aber auch im wahrsten Sinn des Wortes etwas unternehmen, etwa in der Art wie es hier in Altenau geschieht. Überall gibt es ja Menschen, die nicht nur Pseudoaktivitäten entfalten wollen, sondern etwas gestalten.   


Dabei sind sich gerade diese Aktiven einer Situation bewusst, die Paul Böckelmann im 2023 in dem großen Bild „Unter dem gelben Regen“ fasst. Im Grunde ist es das Leitbild für die  Ausstellung. War auch die Welt 1984, als das Eingangsbild entstand, durchaus nicht ohne (Bürger)Kriege und Verfolgung, und war auch die Umweltkrise schon präsent, hat sich in unseren Zeiten des „gelben Regens“ dies alles zu einer einzigen großen Krise zusammengeschoben: die Klimakrise bedroht alle und setzt neben den zerstörerischen Kriegen unserer Tage die nicht abreißenden Flüchtlingsströme in Gang und alles zusammen bewirkt geopolitische Kraftverschiebungen mit unabsehbaren Folgen. Das 2023 entstandene Bild hat all dies als Subtext, wandelt diesen in eine bildnerische Form, die Beunruhigung spürbar macht. Mehr nicht, aber so viel.



Meine Damen und Herren,


heute wird hier in Altenau eine kraftvolle Ausstellung eröffnet, in der, wie mir scheint, sich in den gezeigten Arbeiten alles um die Behauptung des Menschen in seiner Menschlichkeit dreht – trotz aller Widerspüchlichkeit seines Handelns, an dem man sowohl oft zweifeln oder auch verzweifeln kann und zugleich selbst beteiligt ist.


Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit