Einführung zur Ausstellung von Stephanie Steinkopf in Altenau


Stephanie Steinkopf beschäftigt sich mit Themen, die wenig Beachtung in den Nachrichten bekommen und die wir im Alltag meist übersehen. Sie wendet sich einzelnen Menschen zu mit ihren individuellen Lebensumständen zu und erforscht die Auswirkungen von politischen und sozialen Konflikten mit den Mitteln der Fotografie. Besonders ist die Beziehung, die sie zwischen Fotografierten und uns als Betrachterinnen und Betrachter herstellt:


„Ich glaube, dass Nähe ganz wichtig ist. Mit Nähe in den Bildern wird der Betrachter berührt. Es wird eine soziale Situation ins Bewusstsein der Betrachter gerufen. Der erste Schritt für ein Verständnis. Ich habe nicht den Anspruch, die Gesellschaft zu verändern, aber die Möglichkeit als Fotografin Impulse zu geben. Darin liegt die Kraft des Mediums. Wenn es eine Fotografie schafft Menschen emotional zu berühren, dann ist der erste Schritt zu einer Bewußtwerdung getan.“ so die Künstlerin in einem Interview mit dem Kurator Ingo Taubhorn 2013.


Ihr Interessenschwerpunkt liegt auf den Auswirkungen von bestimmten Arbeits- und Lebensbedingungen auf die Psyche einzelner Personen. Um sich diesen anzunähern, arbeitet Stephanie Steinkopf über mehrere Jahre an ihren Projekten und verbringt sehr viel Zeit mit ihren Bildprotagonistinnen und -protagonisten. Als teilnehmende Beobachterin taucht sie in den Alltag anderer ein, baut emotionale Verbindungen auf und kann so von Innen heraus neue Perspektiven auf unsere Gegenwartsgesellschaft ermöglichen, die frei von Klischees und Vorurteilen sind.

Mit dieser Arbeitsweise folgt die Künstlerin dem Credo der Ostkreuzschule in Berlin, wo sie studiert hat. Fotografie wird an der Schule als eine Sprache verstanden und „Fotograf:innen als Autor:innen, die sich der Welt mit einer klaren Haltung stellen und dabei soziale, gesellschaftliche und politische Zusammenhänge ergründen und darstellen.“ Eng in Verbindung mit der Schule steht die Agentur OSTKREUZ, der Stephanie Steinkopf inzwischen angehört. Die Mitglieder setzen sich mit dem Zeitgeschehen auseinander, halten dieses in ihren Bildern fest und prägen darüber Geschichte. Wenn mit Fotografien Herausforderungen und Problemen einzelner Personen umfassend betrachtet werden, wie Stephanie Steinkopf dies verfolgt, zeigt dies ein zutiefst humanistisches geprägtes Verständnis von GEschichtsschreibung.


Ihre Arbeitsweise beschreibt Stephanie Steinkopf als Doku-Fiktion – eine dokumentarisches Interesse, bei dem die Mitteln der Fiktion ein prägnantes Herausarbeiten Beobachtungen erlaubt. Vorbild hierfür ist die französische Filmemacherin Agnès Varda, die in ihren Filmen die möglichen Beziehungen zwischen Realität, Inszenierung und Fiktion auslotet und eine Verunsicherung bei den Betrachterinnen und Betrachtern erzeugt. Stephanie Steinkopf überträgt dies auf ihre Fotografien. Die beschäftigen dabei Frage um das Thema der Authentizität: Was ist authentisch? Wo ist meine eigene Position als Fotografin? Wo die der fotografierenden Person? Was ist das für eine Situation? Ist sie echt oder gestellt?


Was das genau bedeutet zeigt sich sehr gut in den drei Langzeitprojekten, die in der Galerie in Altenau ausgestellt sind und die im folgenden genauer vorgestellt werden: Manhattan. Straße der Jugend, Vogelfrei und Virpi. Manhattan. Straße der Jugend (2008–2012) nimmt die Bewohnerinnen und Bewohner von zwei Wohnblöcken in Letschin in den Blick. Letschin ist das Heimatdorf von Stephanie Steinkopf und befindet sich im Oderbruch in Brandenburg, etwa sieben Kilometer vor der polnischen Grenze und circa eine Stunde entfernt von Berlin. Die zwei Wohnblöcke waren vor der politischen Wende Inbegriff des Wohlstands Ausdruck und sind inzwischen Ort des Scheiterns. 1987 wurden die Wohnblöcke fertig gestellt und waren mit Balkon, Innentoilette und Kachelofen Stein gewordener Ausdruck der DDR Moderne. Im Volksmund bekamen die Gebäude vermutlich deswegen den Namen Manhattan und weil sie auf einem Hügel die Skyline des Dorfs prägen. Weil sich so viele für die neuen Wohnungen interessierten, wurden diese ausgelost. In den ersten Jahren lebten zweihundert Personen, quer durch die Bildungsschichten dort: von Zahnärzten, Lehrerinnen bis zu Erntehelfern und deren Familien. Nach der Wiedervereinigung brach fast alles in der Region zusammen. Im Zuge des wirtschaftlichen und politischen Strukturwandels verschwanden LPGs, Zuckerfabrik, Agrarindustrie. Die Gebäude wurden von Kommune verkauft, neuer Eigentümer kümmerte sich wenig um die Instandhaltung der Wohnungen. Viele wurden arbeitslos, wer wegziehen konnte, tat dies. Bei Familienbesuchen in ihrem Heimatort beobachtete Stephanie Steinkopf den sozialen Wandel und das Verkümmern der Wohnblöcke in über viele Jahre und beschloss für ihre Diplomarbeit an der Ostkreuzschule genauer hinzuschauen. Über vier Jahre verbrachte sie sehr viel Zeit mit den Bewohnerinnen und Bewohnern. Im ersten halben Jahr war sie zwei Wochen pro Monat täglich in Manhattan um eine enge Verbindung aufzubauen, Teil von deren Alltag zu werden und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. Als Stephanie Steinkopf an ihrem Projekt arbeitete, stand ein Block leer. In dem anderen lebten nur noch siebenunddreissig Menschen dort, darunter acht Kinder. Nur vier Personen hatten eine Arbeit. Die Künstlerin beobachtete, dass die Menschen ihre Zeit abgeschottet von Welt verbringen, auf Sofa, in anliegenden Gärten oder Garagen. Ihre Geschichten handeln von Selbstmord, Alkohol, Zusammenhalt und Liebe. Das sind Geschichten etwa von der Familie Zielinski. Der Vater Siegbert hat Alkoholprobleme, versuchte zwei Mal sich das Leben zu nehmen und wird als Langzeitarbeitsloser immer wieder in Bewerbungstrainings gesteckt, die sein Selbstbewusstsein eher mindern, als dass irgendwo hinzuführen. Verwandte und Freunde der Familie finden in Notsituationen regelmäßig Obdach, so dass auf den 72 Quadratmetern die Bewohnerzahl zwischen vier bis acht Personen schwankt. Ein anderer Bewohner ist Wolfram Krill, der nach dem Tod seiner Frau allein seinen Alltag hauptsächlich auf dem Sofa bestritten hatte. Kontakt zur Aussenwelt bot ihm ein Walkie Talkie, mit dem er regelmäßig den Polizeifunk abhörte. Inzwischen ist er verstorben. In dem Haus wohnen ausserdem das Paar Ronny und Nancy. Sie hat Gewalt in Beziehungen erlebt, kann ohne Auto nicht den gewünschten Job in einer entfernten Wäscherei annehmen. Er ist Saisonarbeiter und pflückt in Sommer Gurken auf einer Erntemaschine. Solche Lebensgeschichten stehen exemplarisch für den allgemeinen Trend sozialer Spaltung in den ländlichen Gebieten der neuen Bundesländer ebenso wie in den Ländern des ehemaligen Ostens. Stephanie Steinkopf fotografiert die Personen ausschließlich in Innenräumen, um das Gefühl des Eingeschlossen-Seins und Nicht-heraus-könnens aus einer bestimmten Lebensrealität und sozialen Schicht in Bilder zu setzen. Sie fotografiert nicht heimlich, sondern baut ihre Bilder auf zwischenmenschlichen Beziehungen auf, um die bedrückende Alltagsatmosphäre einzufangen. 


Die zweite in Altenau ausgestellte Arbeit, Vogelfrei (2013–2015), ist ein Projekt über obdachlose Frauen in Berlin und eine Hommage an den gleichnamigen Film von Agnès Varda von 1985. Der Film handelt von einer jungen Frau, die in absoluter Freiheit leben will und dabei der rauen Landschaft Südfrankreichs und den ebenso rauen Charakteren ausgesetzt ist. Stephanie Steinkopf beginnt ihre Recherche am Hauptbahnhof in Berlin und begleitet auch für dieses Projekt ihren Protagonistinnen über längere Zeit, um ihren Alltag nachvollziehen zu können. In den ersten Monaten verbringt sie die Tage und Nächte von Donnerstag bis Sonntag mit ihnen auf der Straße, später vergrößern sich die Abstände. Insbesondere zu auf der Straße lebenden Frauen ist es schwierig Vertrauen aufzubauen. Viele haben häusliche Gewalt, Zwangsräumungen und psychische Erkrankungen erlebt. Die Frauen haben sich gegen ein Leben in Sozialwohnungen, betreutem Wohnen oder in der Psychiatrie und für das Leben auf Straße entschieden. Mit den Fragen, warum sie ihre Familien verlassen haben und wie sie ihren Alltag bestreiten, begegnete Steinkopf unter anderem Hilde und Siggi. Die Biografien der beiden Ende fünfzig jährigen Frauen sind von vielen Brüchen geprägt. Beide führten ein bürgerliches Leben mit Mann, Kindern und Haus. Bei einer führte ein Autounfall, bei der anderen Krankheit und Tod des Mannes zu einer radikalen Veränderung der Lebensumstände. Inzwischen leben sie auf den Straßen Berlins, in einer Parallelwelt der Touristen und Bewohnerinnen und Bewohner, sie gehen die gleichen Wege und bleiben dabei meist unsichtbar. Tagsüber besuchen Hilde und Siggi Einrichtungen für obdachlose Frauen, nachts schlafen sie im Park, wo mittlerweile immer mehr Flüchtlinge Schutz suchen. Mit ihren Bildern setzt Stephanie Steinkopf den anonymen Zahlen der Statistiken konkrete Gesichter und Emotionen entgegen. Ihre Bilder fotografiert sie nachts, wenn die Straßenschluchten in der Dunkelheit versinken und das künstlichem Licht der Straßenlaternen surreale Welt erzeugt. Dabei werden die Orte austauschbar und erzählen auf besondere Weise von dem herausfordernden Leben auf der Straße.


Die dritte hier ausgestellte Arbeit, Virpi (2014 bis 2018) ist eine Porträtstudie einer Frau, die die  Auswirkung des Burnouts-Syndrom auf ein individuelles Leben vorstellt. Stephanie Steinkopf hatte eine Künstlerinnenresidenz in Helsinki in Finnland und lernte ihre Bildprotagonistin kennen, weil sie ihr Hilfe beim Tragen ihrer Einkäufe anbot. Im Gespräch mit der Finnin Virpi stellte sich heraus, dass die einstige Geschäftsführerin am Limit lebt. Burnout ist inzwischen fast eine Volkskrankheit, wie genau sich das Leben von einzelnen dadurch verändert, ist jedoch kein Thema in der Öffentlichkeit. Die Krankheit geht mit emotionaler Erschöpfung, einem Gefühl von Überforderung sowie reduzierter Leistungszufriedenheit einher und ist eine Folge der immer schwierigen Trennung zwischen Berufs- und Privatleben. Stephanie Steinkopf besuchte Virpi in ihrer Wohnung mehrfach und der Prozess des Fotografierens beruhte auf einer besonderen Form der Interaktion, die die Methode der Doku-Fiktion spannungsreich ausfüllt. Einerseits zeigte sich Virpi in ihrer Erschöpfung und Ermüdung, andererseits empfang sie die Fotografin mit kleinen eigenen Inszenierungen, etwa wenn sie mit Lockenwicklern auf dem Kopf ein Stück des finnischen Nationalkomponisten Jean Sibelius dirigiert oder im Treppenhaus vor dem Blick der Nachbarin mit Orangen jongliert.


Im Zusammenhang der drei Serien Manhattan, Vogelfrei und Virpi zeigt sich, dass Stephanie Steinkopfs Arbeit von einer starken Empathie geprägt ist, die sie selbst ihren Protagonistinnen gegenüber aufbringt und die sie bei uns mit ihren Bildern erzeugt. Beim Betrachten kommen auch wir den Menschen auch nahe, erhalten Einblicke in intime Gefühle und Situationen, auch wenn uns fotografierten Lebensumstände vermutlich sehr fremd sind. In den Bildern geht es Gesehen werden genauso wie um ein genaues Hinsehen. Die Arbeiten fordern dazu auf, einige der Entbehrungen und Vorurteile unserer heutigen Gesellschaft zu entdecken und zu identifizieren. Die Fotografien schaffen zugleich Projektionsflächen für Deutungen, die durch unsere eigene Biografie geprägt sind. Damit setzt Stephanie Steinkopf wichtige Impulse für die Wahrnehmung der vielgestaltigen Lebensrealitäten im 21. Jahrhundert und lädt mit ihren Fotografien dazu ein, genauer hinzuschauen, bevor man sich ein Urteil bildet.


Christin Müller






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