Eröffnung der Ausstellung mit Fotografien von Paul Böckelmann

Plakat und Einladung

Eröffnungsrede

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich weiß, wie lästig es sein kann, einer Ausstellungseröffnungsrede zuzuhören. In den meisten Fällen macht es mehr Spaß, die Ausstellung anzuschauen und mit Freunden über sie plaudern. Deswegen verspreche ich: ich fasse mich kurz.

Ich muss Ihnen dieses Kunst- und Geschichtsprojekt schließlich nicht umständlich erklären. Sehr viele von Ihnen haben daran teilgenommen. Sie selbst sind der Inhalt dieser Ausstellung. 

222 Altenauer und Wendisch-Borschützer haben sich und ihre Wohnräume von Paul Böckelmann fotografieren lassen, und sie haben ihm ihre Lebensgeschichten erzählt. Der ganze Ort hat ihm Vertrauen geschenkt und die Tür geöffnet. Das macht dieses Projekt „Altenau – ein Dorf zeigt sich“ so einzigartig und bewegend.

Die Frage ist nun: Wem zeigt sich Altenau eigentlich? Aus den Bildern und Interviews, die Paul Böckelmann gemacht hat, entstehen neben dieser Ausstellung drei Bücher in kleiner Auflage. Die Dokumentation zielt nicht auf die berühmten „15 Minuten Ruhm“ in unserer Mediengesellschaft. Die Altenauer wollen durch dieses Projekt nicht Model oder Superstar zu werden. Sie wollen nicht, dass ihre Wohnzimmereinrichtungen in Architekturzeitschriften gelobt werden. Sie wollen nicht als schönste Dorfgemeinschaft Brandenburgs prämiert werden. 

Es geht also nicht darum, dass die Einwohner sich möglichst positiv nach außen darstellen und vermarkten. Im Gegenteil: Die Fotos, die wir hier sehen, sind realistisch und ungeschönt. Gleiches gilt für die Biografien. Die Altenauer haben ihre Lebensläufe nicht als Erfolgsstories oder Heldensagen frisiert. Sie erzählen oft von Verlusten, vom Scheitern, auch von eigenen Fehlern. Ihre Geschichten handeln davon, wie man aller Zwänge und Schicksalsschläge zum Trotz sein Leben weiterlebt. 

Als Heldentaten erscheinen mir die Arten, wie Altenauer ihre jeweiligen Lebensumstände meistern, allerdings schon. Paul Böckelmanns Projekt setzt den Ortsbewohnern als Helden des Alltags ein Denkmal. 

Und damit haben wir die erste Antwort auf die meine Frage: Wem zeigt sich Altenau eigentlich? Zum Beispiel der Nachwelt. Zukünftige Generationen können an diesem Denkmal ablesen, welche Menschen im Jahr 2011 in diesem Dorf gewohnt haben, wie sie gewohnt haben und welche Erfahrungen sie gemacht haben. Das historisch Interessante an den Erfahrungen dieses einzelnen Dorfes ist: Sie spiegeln im Kleinen die großen dramatischen Umbrüche Deutschlands und speziell Ostdeutschlands: Zweiter Weltkrieg, Flucht, Vertreibung, Kriegsgefangenschaft, Heimkehr, Wiederaufbau, die Lebensumstände in der DDR, dann die Wiedervereinigung und der zweite Neuanfang in einem anderen politischen System. 

Ob die Nachwelt sich für diese Dokumentation interessieren wird, und welche Lehren sie vielleicht aus ihr ziehen wird, wissen wir allerdings jetzt noch nicht. 

Deswegen frage ich noch mal: Wem zeigt sich Altenau? Bis jetzt haben sich die Altenauer eigentlich nur einem gezeigt, nämlich Paul Böckelmann. Sie haben ihm nicht nur ihre Türen, sondern auch ihre Herzen und Seelen geöffnet. Sie haben Paul, dem Künstler und Nachbarn, auch persönliche Dinge offenbart, die man seinen Nachbarn normalerweise nicht unbedingt erzählt. Paul Böckelmann hat sozusagen das Seelenleben des Ortes dokumentiert – vielleicht ist das die heutige Aufgabe von Kunst. Und insofern erscheint es mir sehr passend, dass dieser Künstler hier im ehemaligen Pfarrhaus wohnt.

Paul Böckelmann hat mir erzählt, dass die Altenauer Lebensgeschichten ihn tief berührt haben. Manche Schilderungen fand er zum Heulen traurig, aber er entdeckte in ihnen auch unbändige Lebensfreude und Lebensenergie. Er beobachtete, dass er Menschen anders sieht, seit er ihre Biografie kennt: verständnisvoller, freundlicher, mitfühlender. 

Ich bin gespannt, was passiert, wenn nun hoffentlich jeder Altenauer wie Paul Böckelmann die Lebensgeschichte jedes Ortsnachbarn kennenlernt. Werden sie alle sich danach gegenseitig freundlicher betrachten als zuvor? Falls dieser Effekt eintritt, wäre er wohl die wichtigste und schönste Wirkung dieses Projektes. 

Damit ist meine Frage beantwortet: Wem zeigt sich Altenau – sich selbst! Man könnte also den Titel der Dokumentation folgendermaßen variieren: Aus „Altenau – ein Dorf zeigt sich“ wird „Altenau – ein Dorf sieht sich“. 

Altenau, 11. September 2011 Felix Johannes Enzian

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